Ein Beitrag von Dr. Peter Gleber, Wissenschaftlicher Leiter des Genossenschaftshistorischen Informationszentrums (GIZ)
„We agree to differ“ war ein wichtiges Gründungsprinzip des ICA. Es zeigt uns heute, dass Solidarität bei aller Verschiedenheit ein wichtiger Wert zur Sicherung von Frieden und Freiheit ist.
Die zweitälteste NGO der Welt wurde vor 125 Jahren, am 19. August 1895, in London gegründet. Neben Argentinien, Australien, Belgien, Dänemark, England, Frankreich, den Niederlanden und den USA haben auch Delegierte aus Deutschland an der Gründungsversammlung teilgenommen. Genossenschaftliche Werte, Frieden, Demokratie und Freihandel waren die Ideale des ICA, die auch die schwierigen Zeiten der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts überlebten.
Am 5. Januar 1895 wurde in den „Blättern für das Genossenschaftswesen“ ein Beitrag des britischen Genossenschaftsfunktionärs Henry William Wolff abgedruckt, der als Einladung zur Gründungsversammlung der ICA in den Londoner Crystal Palace verstanden werden kann. Wolff schmeichelt darin den Deutschen und würdigte Schulze-Delitzsch als „Altmeister des festländischen Genossenschaftswesens“. Er versprach, dass das Arbeitsfeld der angestrebten Allianz „auf sämtliche Zweige des genossenschaftlichen Wirkens“ ausgedehnt werde, namentlich auf den in Großbritannien noch nahezu unbekannten Typus der deutschen Kreditgenossenschaft.
Schulze-Delitzschs Zielstellung „Die Genossenschaft ist der Friede“ solle mit der Gründung des ICA erfüllt werden. Wolff ahnte wohl, dass die vor allem von Engländern, Franzosen und Italienern initiierte Veranstaltung in Deutschland auf wenig Gegenliebe stoßen würde. Die Redaktion der deutschen Genossenschaftszeitung unterstellte dem englischen Verband in einer Anmerkung, dass die Engländer selbst nicht hinter der Idee einer internationalen Allianz stünden, da sie über genügend eigene Kontakte verfügten und damit eine ICA nicht bräuchten.
Im Anschluss daran setzte sich der Sekretär des nationalen Genossenschaftsverbands, Hermann Häntschke, kritisch mit dem englischen Genossenschaftswesen auseinander. Er beschrieb sehr detailliert dessen üppige Organisationskosten und rühmte die Sparsamkeit und Bescheidenheit deutscher Genossenschaftstage. Anschließend berichtete Häntschke von einer ersten Volksbank auf der britischen Insel im schottischen Edinburgh. Diese sei nicht mit einer soliden deutschen Volksbank zu vergleichen, die vorwiegend Personalkredite vergebe. Die Schotten seien zwar auf ihr Geschäftsmodell der landwirtschaftlichen Hypothekenbank sehr stolz. Häntschke prophezeite dem Institut jedoch keinen nachhaltigen Erfolg, da ihm über kurz oder lang die Geldmittel ausgehen würden.
Angesichts der geschilderten Berichterstattung scheint es ungewöhnlich, dass die deutsche Genossenschaftsorganisation Gründungsmitglied des ICA wurde. Die inhaltlichen Differenzen sind ein Spiegelbild der Strukturunterschiede des deutschen Genossenschaftswesens und der übrigen Mitglieder des ICA. Während bei den meisten ICA-Mitgliedern die Konsumgenossenschaften und Selbsthilfeorganisationen von Endverbrauchern, darunter vor allem Wohnungsbaugenossenschaften, in der Überzahl waren, dominierten die Kreditgenossenschaften des selbstständigen Kleingewerbes das deutsche Genossenschaftswesen. Dazu kamen noch Selbsthilfeorganisationen des Handwerks. Konsumgenossenschaften und Wohnungsbaugenossenschaften waren im deutschen Genossenschaftsverband dagegen in der Minderzahl. Dass die Deutschen dennoch an der Gründung des ICA beteiligt waren, ist als ein starkes Signal für das internationale Genossenschaftswesen zu werten.
Auch in Deutschland gelten Genossenschaften als Schulen der Demokratie. Ihre Vordenker, Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen entwickelten sie in einem mitteleuropäischen Raum, der noch kein Nationalstaat war. Im 19. Jahrhundert gab es viele deutsche Kleinstaaten, die zwar Rechtsstaaten aber keine Demokratien waren. Inspiration fand Schulze-Delitzsch, der sich in der Revolution von 1848/49 vergeblich für Freiheit und Demokratie einsetzte, im Ausland. Neben französischen Frühsozialisten waren es vor allem englische Praktiker, wie Robert Owen und die Rochdaler Pioniere, die ihn zur Genossenschaftsidee brachten.
Aber auch in Deutschland gab es bereits eine Kreditgenossenschaft, die Schulze-Delitzsch als Vorbild diente: die Oehringer Privatspar- und Leih-Kasse in Württemberg. Doch erst mit Schulze-Delitzsch als Ideengeber gründeten vor allem Handwerker und Händler zahlreiche Genossenschaften, die die wirtschaftliche und soziale Not des Mittelstands milderten. Schulze-Delitzsch schuf 1859 den ersten deutschen Bankenverband und danach den ersten Genossenschaftsverband. Er gilt außerdem als Schöpfer des Preußischen Genossenschaftsgesetzes, das wenige Jahre nach seinem Tod im deutschen Kaiserreich verabschiedet wurde.
Die Grundsätze der Pioniere von Rochdale wurden aber auch in Deutschland, wie etwa vom durch Schulze-Delitzsch gegründeten „Allgemeinen Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ respektiert und geachtet. Insbesondere das Demokratieprinzip „one man, one vote“ war ein Grund für die deutsche Unterstützung des ICA. Das deutsche Genossenschaftsgesetz und die Mitgliedschaft in einem internationalen Verband waren für deutsche Genossenschaften eine „Lebensversicherung“ im deutschen Kaiserreich, einem undemokratischen Obrigkeitsstaat.