Ein Gastbeitrag von Eckhard Schwarzer, von 2019 bis 2025 Präsident des MITTELSTANDSVERBUND – ZGV e. V., des Bundesverbands der gewerblichen Verbundgruppen und Genossenschaften in Deutschland, sowie zeitgleich Vizepräsident des DGRV.

Eckhard Schwarzer
Martin Berger, Inhaber eines mittelständischen Unternehmens für Maschinen- bzw. Werkzeugbau in Franken, sitzt spätabends in seinem Büro. Die Produktionshalle ist längst verwaist, doch auf seinem Schreibtisch türmen sich Dokumente. Weniger jedoch die offenen Aufträge bereiten ihm Sorgen als vielmehr die Nachrichtenlage:
Berger fragt sich: Wie kann ich diese permanenten Dynamiken allein bewältigen?
Sein Dilemma ist kein Einzelfall. Die ökonomische Realität des Jahres 2025 gleicht einem komplexen Spannungsfeld geopolitischer Konflikte, disruptiver Technologien, zerbrechlicher Lieferketten und eines immer rigideren Regulierungsrahmens. In aktuellen Mittelstandserhebungen werden geopolitische Spannungen regelmäßig als eine der größten Herausforderungen für die wirtschaftliche Planungssicherheit genannt. Gleichzeitig zeigt sich, dass viele mittelständische Unternehmen zur Bewältigung solcher äußerer Einflüsse auf externe Unterstützung angewiesen sind – etwa durch Verbände, Netzwerke oder Kooperationen.
Nicht selten haftet dem Begriff „Genossenschaft“ ein beinahe anachronistischer Beigeschmack an, assoziiert mit landwirtschaftlichen Bezugsvereinen oder dem genossenschaftlichen Bankensektor. Dabei ist das zugrundeliegende Prinzip zeitlos:
„Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele gemeinsam.“
Genossenschaften und kooperative Verbundgruppen beruhen auf dem freiwilligen Zusammenschluss wirtschaftlich selbstständiger Unternehmen, die jedoch ihre Kräfte dort bündeln, wo einzelne Akteure strukturell unterlegen wären. Kooperationen stellen somit ein Strukturprinzip dar, das die Wettbewerbsfähigkeit mittelständischer Unternehmen nachhaltig sichern kann. Ob in der Beschaffung, in der Digitalisierung, in der Rechtsberatung oder bei der politischen Interessenvertretung: Kooperation bedeutet, Skaleneffekte zu realisieren und systemische Risiken abzufedern.
Gerade in einer Ära multipler Krisen wird dieses Modell zu einer überlebensnotwendigen Zukunftsarchitektur für den Mittelstand. Denn Einzelkämpfer stoßen zunehmend an ihre wirtschaftliche, technologische und personelle Belastungsgrenze.
Die Diskussion um Kooperationen ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Auch in anderen Industrienationen werden Verbundstrukturen als strategische Antwort auf die Herausforderungen einer globalisierten, digitalen Wirtschaft erkannt.
Ein Beispiel liefert Japan:
Im Juli 2024 fand in Fukuoka, Japan, der jährliche Kongress der TKC Cooperation statt, einer landesweiten Steuerberaterkooperation, die 1966 gegründet worden ist und zahlreiche Parallelen zu deutschen Verbundmodellen aufweist. Ich durfte auf diesem Kongress in einem Vortrag mit dem Titel „Resilience of Cooperatives and Cooperating Companies“ die besondere Widerstandskraft kooperativer Organisationsformen in Krisenzeiten beleuchten. Auch im April 2025 standen bei weiteren Gesprächen mit der Unternehmensspitze der TKC Cooperation erneut die Perspektiven und Herausforderungen solcher Netzwerke im Mittelpunkt.

TKC-Kongress Fukuoka, Japan 19.07.2024
Auffällig ist, dass die dortigen Diskussionen in frappierender Weise den Debatten in Deutschland gleichen: Digitalisierung, Fachkräftemangel, steigende Bürokratie sowie der wachsende
Beratungsdruck auf Seiten der KMU prägen ebenso die japanische Agenda und verdeutlichen, dass Kooperationen weltweit eine strategische Option für die Resilienz mittelständischer Unternehmen darstellen.
Dies verdeutlicht: Kooperationen sind ein globales Schlüsselkonzept für die Resilienz und Zukunftsfähigkeit von KMU.
Die Erfahrungen aus den großen Krisen der vergangenen 25 Jahre – von der Dotcom-Blase über die Finanzkrise 2008/09, die Eurokrise bis zur Corona-Pandemie – zeigen ein klares Muster:
Unternehmen, die in Netzwerken agieren, erweisen sich als krisenresistenter. Sie sichern sich Liquidität, teilen Risiken und verfügen über größere politische Durchsetzungskraft. Doch ebenso hat sich gezeigt, dass zahlreiche Kooperationen in Krisenzeiten primär in eine defensive Verwaltungshaltung verfallen sind. Statt die Krise als Transformationsimpuls zu begreifen, verlegten sie sich oftmals auf kurzfristige Kostenreduktionen und konservative Bestandssicherung. Visionäre Neuausrichtungen blieben vielerorts aus.
Das birgt Gefahren. Denn die aktuellen Transformationstreiber verlangen mehr als nur defensive Strategien:
Kooperationen, die ausschließlich auf Bewahrung setzen, laufen Gefahr, sich selbst zu überholen und ihre Existenzberechtigung zu verlieren.
Viele Mittelständler sehen in bestehenden Verbundgruppen die einzige Option für kooperatives Handeln. Doch was geschieht, wenn für die eigene Branche keine geeignete Organisation existiert? Oder wenn bestehende Strukturen innovationsmüde geworden sind?
Die logische Konsequenz lautet: Eigeninitiative.
Es sollte jedoch ein wichtiger Vorbehalt angesprochen werden:
Wenn sich Wettbewerber zu einer Genossenschaft oder Verbundgruppe zusammenschließen, tauchen regelmäßig Bedenken hinsichtlich kartellrechtlicher Vorgaben, Compliance-Regeln oder unzulässiger Wettbewerbsabsprachen auf. Diese Bedenken sind grundsätzlich berechtigt, lassen sich jedoch rechtssicher adressieren. Denn die Mitglieder einer Genossenschaft oder Verbundgruppe bleiben weiterhin rechtlich selbstständige Marktteilnehmer und unterliegen selbstverständlich untereinander sämtlichen wettbewerbsrechtlichen Vorgaben. Auf der darüberliegenden Ebene der Genossenschaft hingegen finden ausschließlich solche gemeinsamen Aktivitäten statt, die – wie in diesem Aufsatz beschrieben – auf die gemeinsame Nutzung von Ressourcen, Dienstleistungen oder Infrastrukturen abzielen, ohne das Marktverhalten der einzelnen Mitglieder in unzulässiger Weise zu koordinieren.
Aus eigener Erfahrung und aus den Erfahrungen zahlreicher existierender Genossenschaften lässt sich zeigen, dass dies in der Praxis rechtssicher und unproblematisch abbildbar ist.
Zahlreiche Unternehmer schrecken auch aus einem anderen Grund vor einem Verbund zurück. Sie fürchten, dass ihre Wettbewerber gleichzeitig ihre naheliegenden Partner wären. Doch das ist ein Trugschluss. Denn gerade dort, wo Unternehmen im Kerngeschäft konkurrieren, leiden sie oft unter identischen strukturellen Herausforderungen:
Allein lassen sich diese Herausforderungen nur schwer bewältigen. Kollektiv hingegen wird daraus eine lösbare Aufgabe.
Und wer diesen Weg gehen möchte, ist nicht auf sich allein gestellt. Der MITTELSTANDSVERBUND – ZGV e. V., der Bundesverband der gewerblichen Verbundgruppen und Genossenschaften in Deutschland und die ServiCon Service & Consult eG ebenso wie der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV) und die regionalen Genossenschaftsverbände stehen potenziellen Initiatoren mit Beratung, Netzwerken und konkreten Hilfestellungen zur Seite – sei es bei der rechtlichen Strukturierung, der strategischen Geschäftsfeldentwicklung oder der Ansprache potenzieller Mitglieder. Gerade in der Phase der Neugründung oder Reorganisation bestehender Kooperationen kann diese Unterstützung für mittelständische Unternehmen erfolgskritisch sein.
Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die Steuerberaterbranche. Mitte der 1960er-Jahre standen viele kleine Kanzleien vor der Herausforderung, die aufkommende elektronische Datenverarbeitung und die Notwendigkeit deren Nutzung weder finanziell noch technologisch alleine bewältigen zu können.
Im Februar 1966 schlossen sich daher 65 Steuerberater aus dem Kammerbezirk Nürnberg zusammen und gründeten die DATEV eG. Gemeinsam bauten sie eine Infrastruktur auf, die zunächst die kostspielige Datenverarbeitung ermöglichte und sich über Jahrzehnte zu einem der führenden IT-Dienstleister Europas entwickelte. Heute zählt die DATEV über 40.000 Mitglieder. Sie investiert gewaltige Summen in Cloud-Technologien, KI-Entwicklung und digitale Plattformen – Leistungen, die eine einzelne Kanzlei
niemals stemmen könnte.
Doch die Mitglieder bleiben Wettbewerber im Beratungsmarkt. Die Kooperation beschränkt sich auf jene Felder, in denen gemeinsames Handeln unverzichtbar ist.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass es nicht genügt, Krisen lediglich zu überstehen. Wer als Verbundgruppe oder Genossenschaft lediglich auf kurzfristige Stabilisierung setzt, riskiert seine Relevanz.

Eckhard Schwarzer beim TKC-Kongress Fukuoka, Japan
Die DATEV hat eindrucksvoll bewiesen, dass eine Genossenschaft nicht nur ein Bollwerk gegen Krisen sein kann, sondern auch ein Innovationsmotor. Statt sich auf Buchhaltung zu beschränken, hat sie neue Geschäftsfelder erschlossen: digitale Kollaborationsplattformen, ESG-Beratung, KI-gestützte Datenanalysen. Ohne kollektive Ressourcen wären diese Entwicklungen für Einzelkanzleien utopisch.
Gleiches gilt in Japan. Auch dort wird zunehmend diskutiert, wie aus einer bloßen IT- und Kostenkooperation eine Innovationsgemeinschaft werden kann – mit dem Ziel, nicht nur bestehende Dienstleistungen effizienter zu gestalten, sondern völlig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Zurück zu Martin Berger, dem Maschinenbauer. Er steht vor einer fundamentalen Entscheidung: Will er weiterhin jede neue Krise im Alleingang abfedern? Oder sucht er gezielt die Partnerschaft – womöglich sogar mit langjährigen Wettbewerbern?
Vielleicht tritt er einer bestehenden Kooperation bei. Vielleicht initiiert er eine eigene Verbundgruppe oder Genossenschaft, die nicht nur verwaltet, sondern Innovation in den Mittelpunkt stellt.
Denn so paradox es zunächst wirken mag: Gerade in einer Welt, die von Krisen, Transformation und Disruption geprägt ist, kann die Kooperation mit dem Wettbewerber der entscheidende Hebel für die Zukunftsfähigkeit sein.
Kooperationen sind kein Garant für Erfolg. Doch sie sind häufig die einzige Chance, in einer Welt permanenter Umbrüche und wachsenden regulatorischen Drucks zu bestehen.
Die zentrale Erkenntnis lautet: Auch Wettbewerber können Partner werden, wenn sie den Mut aufbringen, ihre Kräfte zu bündeln, anstatt ihre Schwächen gegeneinander auszuspielen.
Die DATEV zeigt eindrucksvoll, wie eine Gruppe entschlossener Unternehmer eine Infrastruktur schaffen kann, die heute das Rückgrat einer ganzen Berufsgruppe bildet. Und auch in Japan wird das Thema Kooperation intensiv weitergedacht – ein deutliches Signal, dass diese Organisationsform globale Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit liefern kann.
Wie Prof. Dr. Theresia Theurl kürzlich formulierte:
Aus der Geschichte erfolgreicher Genossenschaften kann gelernt werden – und nicht zu knapp. Dennoch folgt daraus keine Erfolgsgarantie. Vielmehr erfordern positive Perspektiven eigene Analyse und eigenes Zutun. Der Kern der Genossenschaft ist die Leistungsbeziehung mit ihren
Mitgliedern, die durch Markttransaktionen nicht ersetzt werden kann. Anpassungsfähigkeit ist kein Automatismus, sondern Resilienz muss entwickelt werden. Gerade dabei weisen Genossenschaften mit ihrer Einbindung in Netzwerke, Verbünde und Communities einen komparativen Vorteil gegenüber anderen Rechtsformen auf.“(Prof. Dr. Theresia Theurl, LinkedIn, Juli 2025)
So bleibt der Grundsatz bestehen:
„Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele gemeinsam.“
Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den Eckhard Schwarzer beim TKC-Kongress im japanischen Fukuoka gehalten hat.