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Der Russland-Ukraine-Krieg im Licht der Rechnungslegung


Ein Beitrag von Robert Siegl, Referent Grundsatzabteilung beim DGRV


Der 24. Februar 2022 markiert einen eklatanten Einschnitt in die rechtlichen und politischen Grundfesten Europas mit langfristigen Auswirkungen auf die globale politische Ordnung. Es ist vor allem aber eine große humanitäre Katastrophe.

Die weitreichenden wirtschaftlichen Konsequenzen des Kriegs betreffen in erster Linie die ukrainische Volkswirtschaft. Doch auch die global verflochtene Weltwirtschaft steht vor großen Herausforderungen.

Ausnahmesituation für die globale Wirtschaft


Seit Kriegsbeginn können unzählige ukrainische Unternehmen ihren Geschäftsbetrieb nicht oder nur teilweise aufrechterhalten. Vielerorts sind die Lieferketten von und zur Ukraine stark beeinträchtigt oder gänzlich unterbrochen. Dies betrifft nicht nur den in der Ukraine stark ausgeprägten Agrarsektor, aufgrund dessen das Land oft als Kornkammer Europas bezeichnet wird, sondern auch viele global agierende und produzierende Unternehmen unterschiedlichster Branchen.

Darüber hinaus wurden seitens der Europäischen Union mehrere umfangreiche Sanktionspakete beschlossen, die Russland sowie Belarus durch Ein- und Ausfuhrverbote, Verkehrsbeschränkungen sowie gezielte finanziellen Maßnahmen von europäischen Geldern abkoppeln sollen. Russland ist gleichzeitig einer der größten Exporteure für Rohstoffe und Energieträger der Welt, sodass bei anhaltendem Kriegsgeschehen von einer Verschärfung der wirtschaftlichen Situation in den betroffenen Sektoren auszugehen ist.

Die weitreichenden globalen Verflechtungen stellen Unternehmen weltweit vor unternehmerische Herausforderungen. Die kriegsbedingten Auswirkungen sind vielfältig und betreffen auch Bereiche der Wirtschaft, die man nicht auf den ersten Blick erkennen kann, wie etwa die angemessene Darstellung der aktuell noch nicht abschätzbaren Situation im Jahresabschluss und in der Lageberichterstattung.

Um Genossenschaften hierbei zu unterstützen, hat der DGRV in Zusammenarbeit mit den Mitgliedsverbänden Hinweise und Empfehlungen erstellt. In Kombination mit dem vom IDW veröffentlichten Fachlichen Hinweis „Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die Rechnungslegung und deren Prüfung“ helfen diese Hinweise und Empfehlungen bei der Jahresabschlusserstellung.

Stichtagsprinzip und Wertbegründung


Da die Konsequenzen für die Berichterstattung im Wesentlichen durch das Stichtagsprinzip des Handelsgesetzbuchs (HGB) induziert werden, bedarf es zunächst einer zeitlichen Einordnung der Ereignisse in den handelsrechtlichen Rahmen. Die Betrachtung des Stichtags ermöglicht eine klare Abgrenzung von Geschäftsvorfällen und Ereignissen in die jeweils zutreffende Berichtsperiode.

In einem ersten Schritt ist daher zu prüfen, ob der Bilanzstichtag des bilanzierenden Unternehmens vor oder nach dem maßgeblichen Ereignis liegt. Maßgeblich ist das Datum des Einmarsches der russischen Streitkräfte in die Ukraine: der 24. Februar 2022.

Für Bilanzstichtage vor diesem Tag ist ein wertbegründendes Ereignis anzunehmen, welches die zukunftsgerichteten Aspekte der Unternehmensberichterstattung berührt, insbesondere den Nachtragsbericht sowie den Chancen- und Risikobericht der Lageberichterstattung. Daher ergeben sich für die abgeschlossene Berichtsperiode keine Auswirkungen auf die Bilanz sowie die Gewinn- und Verlustrechnung (GuV).

Kann eine Fortführung der Unternehmenstätigkeit nicht mehr angenommen werden, dann ist die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage gemäß Bilanz und GuV auf Basis von Liquidationswerten aufzustellen.

Nachtragsbericht-

erstattung


Wertbegründend ist ein Ereignis immer dann, wenn es einen wesentlichen Einfluss auf das Unternehmen und dessen Geschäftstätigkeit hat. Das HGB spricht in diesem Zusammenhang von einem „Vorgang von besonderer Bedeutung nach dem Schluss des Geschäftsjahres“, der gemäß § 285 Nr. 33 bzw. § 314 Abs. 1 Nr. 25 HGB in der Nachtragsberichterstattung im Anhang durch Nennung seiner Art und der finanziellen Auswirkungen berücksichtigt werden muss. Ob der Kriegsausbruch für die jeweilige Genossenschaft von besonderer Bedeutung ist, muss immer für den Einzelfall entschieden werden. Insbesondere im Fall eines bedeutsamen geschäftlichen Bezugs zu den Konfliktparteien oder eines maßgeblichen Einflusses von gestiegenen Rohstoff- oder Energiepreisen müssen Unternehmen von einer Berichtspflicht ausgehen. Kleine Genossenschaften sind von der Nachtragsberichterstattung befreit (siehe § 267 HGB).

Lageberichterstattung


Auch an die Lageberichterstattung ist, sofern ein wertbegründetes Ereignis vorliegt, an die daraus erwachsenden Berichtspflichten zu denken. Der Lagebericht erfüllt eine zukunftsgerichtete Ergänzungsfunktion zum Jahresabschluss, die sich im Wesentlichen in den Abschnitten der Chancen- und Risiko- sowie der Prognoseberichterstattung niederschlägt. Diese Ausführungen fungieren als Korrektiv zum Jahresabschluss, da sich keine stichtagsbezogenen Auswirkungen auf Bilanz oder GuV ergeben.

Der Kreis der Unternehmen, die von der ungewissen Situation betroffen sind, ist sehr heterogen. Im konkreten Einzelfall ist daher stets zu prüfen, in welchem Maße die Geschäftstätigkeit durch die veränderten Rahmenbedingungen beeinflusst wird.

Wesentliche Risiken treffen die Wirtschaft insbesondere auf der Beschaffungsseite, etwa hinsichtlich der Verfügbarkeit von Rohstoffen oder Vorprodukten infolge von beeinträchtigen Lieferketten und daraus resultierenden Preissteigerungen (Inflation). Auch auf die Risiken im Zusammenhang mit der Versorgung sowie der Preisdynamik konventioneller Energieträger wie Kohle, Gas und Öl ist einzugehen – insbesondere vor dem Hintergrund der Sanktionen. Auf der Absatzseite müssen Unternehmen unter anderem sanktions- oder lieferkettenbedingte Umsatzeinbußen und einen Rückgang des Warenumschlags bedenken. Auch aus Insolvenzen von Marktteilnehmern, auf Grund fehlender Ertragsperspektiven, resultieren negative Perspektiven. Letztlich können auch gestiegene Kapitalkosten (Zinsen) sowie die Zunahme von Forderungsausfällen und andere sanktionsbedingte Beeinträchtigungen von Zahlungsströmen wesentliche Risiken für das Liquiditätsmanagement begründen.

Eine Dopplung der genannten Berichtsinhalte innerhalb der Nachtrags- und der Lageberichterstattung lässt sich nicht immer vermeiden und wird daher hingenommen.

Stichtagsprinzip und Werterhellung


Für Geschäftsjahre, die am oder nach dem 24. Februar 2022 enden, ist der Russland-Ukraine-Konflikt als werterhellendes Ereignis in der Berichterstattung des Unternehmens zu berücksichtigen. Etwaige Auswirkungen sollten daher konsequent sowohl im Anhang und Lagebericht als auch in Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung einbezogen werden. Hierbei ist die individuelle Betroffenheit der Genossenschaft ausschlaggebend für die konkreten Auswirkungen auf Bilanzierung und Bewertung. In der aktuellen, von erhöhter Unsicherheit geprägten Situation, gilt es, die wirtschaftlichen Konsequenzen auf allen Ebenen der Finanzberichterstattung sachgerecht zu verarbeiten.

Offener Ausblick


Trotz aller Bemühungen, die aktuelle Situation in der Unternehmensberichterstattung zu verarbeiten, sind die vollumfänglichen Konsequenzen des Konflikts, sowohl im Hinblick auf die allgemeine Wirtschaftslage als auch auf Ebene jeder einzelnen Genossenschaft, heute noch nicht konkret absehbar. Deshalb hängen Umfang und Inhalt der Unternehmensberichterstattungen maßgeblich vom weiteren Verlauf des Konflikts ab. Im Risikomanagement sind daher die allgemeinen, vor allem aber die wirtschaftlichen Entwicklungen engmaschig zu überwachen. Der DGRV und die genossenschaftlichen Prüfungsverbände werden situationsgerecht weitere Hinweise veröffentlichen.

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