Ein Beitrag von Dr. Matthias Arzbach, DGRV Kolumbien, und Kalina Nerger, DGRV-Abteilung Internationale Beziehungen, für unser Fachmagazin PerpsektivePraxis.
Die idyllische Kleinstadt Ciudad Bolívar liegt drei Autostunden von Medellín, der Hauptstadt des Departements Antioquia, entfernt. Dem Besucher sticht zunächst die grüne Hügellandschaft ins Auge, fast malerisch liegt die Kulturlandschaft des Kaffees im Herzen Kolumbiens da. Dabei ist die Gegend von großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen geprägt. Ciudad Bolívar war lange Zeit die erste Anlaufstelle für Binnenvertriebene aus dem Urrao in Antioquia und der Nachbarprovinz Chocó, die als Opfer während des 50-jährigen bewaffneten Konfliktes in Kolumbien aus ihren Heimatdörfern fliehen mussten. Die Vertreibung in Kolumbien hatte ihre Ursachen in verschiedenen sozialen, politischen und ökonomischen Problemen, wobei der bewaffnete Konflikt der Guerillabewegungen und Paramilitärs sowie die Entwicklung des Drogenhandels in den 1980er- und 90er-Jahren ihren Höhepunkt fanden. Dabei war die Zivilbevölkerung massiv der Gewalt bewaffneter Gruppierungen ausgesetzt, was zu einer großen Fluchtbewegung führte. Offiziell wurden in Kolumbien zwischen 1985 und 2012 4,7 Mio. Menschen aus 1.117 Gemeinden vertrieben. Das Departement Antioquia ist dabei die größte Ursprungs-und Aufnahmeregion für die Vertriebenen. Auch heute noch, nach dem Zurückdrängen der Guerillabewegung der FARC und der ELN und einem mittlerweile vereinbarten Friedensprozess mit der FARC, liegt Ciudad Bolívar in einem Korridor, der dem intensiven Transit von Drogen zum Pazifik dient. Die entstandenen Freiräume nutzen kriminelle Gruppierungen, die ein vielleicht noch schwieriger zu kontrollierendes Problem darstellen. Viele Einwohner von Ciudad Bolívar halten sich als Tagelöhner in der Kaffeeernte über Wasser, ihren Kindern können sie kaum eine Perspektive für ein besseres Leben bieten. Die Kaffeeproduktion ist ein kapitalintensives Geschäft, daher besteht kaum die Möglichkeit, eine Parzelle Land oder die notwendigen Produktionsmittel zu kaufen. Die Frauen versuchen oft, ein bescheidenes Einkommen für die Familie dazu zu verdienen. Viele von ihnen sind al-leinerziehend. Sie pflanzen Gemüse und Obst an und stellen Fruchtsäfte oder Milchprodukte her, jedoch in einem so geringen Umfang, dass sie ihre Produkte allenfalls im engen Kreis von Freunden und Verwandten oder auf kleinen Märkten verkaufen können. Wird eine Ausweitung des Absatzmarktes gesucht, schöpfen Zwischenhändler die geringe Wertsteigerung zusätzlich ab. Eine Vermarktung im lokalen oder regionalen Supermarkt ist wegen der feh-lenden Zulassung durch die staatliche Lebensmittelbehörde problematisch, wenn nicht unmöglich. Infolge der hohen strukturellen Arbeitslosigkeit und fehlender Perspektiven verlässt vor allem die junge Bevölkerungsschicht die Region. An dieser prekären Situation, die in fast ganz Kolumbien alltäglich ist, setzt das vom BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) finanzierte Projekt „Förderung lokaler Wirtschaftstätigkeit zur Abmilderung von Ursachen und Auswirkungen der Binnenflucht in Kolumbien“ an. Ziel des Projektes ist es, in abgelegenen Regionen Antioquias durch die Kooperation von Produzenten und deren Beratung langfristige Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und die lokale Wirtschaftstätigkeit zu stärken. Die so entstandenen Produzentengruppen bauen z. B. Blumen, Obst und Gemüse an oder stellen Süßwaren her. Sie werden von den Projektmitarbeitern schwerpunkt-mäßig in betriebswirtschaftlichen und finanziellen Themen sowie zum Potenzial von Kooperationen geschult. Dabei arbeitet der DGRV eng mit seinem Partner Fundación CFA, der Stiftung einer lokalen Spar- und Kreditgenossenschaft, zusammen. Unterstützt wird das Projekt außerdem vom staatlichen Ausbildungsdienst SENA, der Kleinbauern zu Themen wie Aussaat, Ernte, Verarbeitung und Vermarktung berät. Im bergigen Antioquia, nicht unweit des Äquators, existieren durch die Höhenunterschiede zahlreiche Mikroklimata auf kleinstem Raum nebeneinander. Dadurch ist der Anbau unterschiedlicher Agrarprodukte möglich. Die lokalen Wirtschaftsstrukturen und die Produzentengruppen unterscheiden sich dementsprechend stark voneinander. In Ciudad Bolívar werden außer-dem dem Tourismussektor große Entwicklungspotenziale zugeschrieben. Bislang werden die Möglichkeiten jedoch kaum genutzt. Hier setzt das Beratungsprojekt gemeinsam mit der örtlichen Filiale der Spar- und Kreditgenossenschaft CFA an und bringt lokale Produzenten in einem gemeinsamen Projekt zur Förderung des Tourismus zusammen. Nun kommen Wochenendurlauber von Medellín in die malerische Region. Die Produzentengruppen organisieren den Aufenthalt vor Ort: Die Touristen reisen in bunt bemalten Bussen, sogenannten Chivas, werden mit Speisen und Getränken wie z. B. Kaffee aus eigener Herstellung verköstigt und von lokalen Musikgruppen unterhalten. Andere Mitglieder der Gruppe bieten Touristen selbstgeimkerten Honig und Bananen an. So erhalten die beteiligten Familien mehr Möglichkeiten zur Vermarktung ihrer Produkte, die ansonsten sehr begrenzt sind. Auch der zunehmenden Kriminalität und Gewalt in der Region soll durch solche Initiativen entgegengewirkt werden, insbesondere indem Jugendlichen attraktive Alternativen aufgezeigt werden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ebenfalls mit dem Ziel einer besseren Vermarktung wird die genossenschaftliche Supermarktkette CONSUMO ins Projekt integriert. Die lokalen Produkte sollen zukünftig in ausreichendem Volumen, mit aus-reichender Liefergenauigkeit und Qualität direkt in den Supermärkten in Medellín angeboten werden. Bei den hierfür notwendigen Schritten werden die Produzentengruppen beim gesamten Produktionsprozess bis hin zum Absatz von den Projektberatern begleitet. Dadurch soll zukünftig ein größerer Teil der Wertschöpfung bei den Herstellern bleiben. Bislang werden rund zwei Drittel von Zwischenhändlern vereinnahmt. Die Produzentengruppen sollen mittelfristig eine Rechtsform annehmen und dauerhafte Strukturen bilden. Auch hier-bei werden sie vom DGRV und der Fundación CFA beraten. Dies kann z. B. in Form einer Genossenschaft geschehen. Im Vordergrund steht jedoch die Umsetzung der Erkenntnis: „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.“ Die Aktivitäten werden durch ein Angebot für finanzielle Bildung der Genossenschaft CFA ergänzt. Dabei sollen die Mitglieder der Produzentengruppen zukünftig als Kunden der CFA Kleinbeiträge möglichst regelmäßig sparen, Zugang zu Krediten zu bezahlbaren Konditionen erhalten und damit unabhängig von den informellen, teuren und oft gewalttätigen Geldverleihern werden. Das Projekt hat zum Ziel, geschwächte und teils schon verloren gegangene Sozialstrukturen zu festigen, die Region zu fördern, das Leben auf dem Land wieder lebenswert zu machen und den Familien und vor allem den Jugendlichen neue Perspektiven zu bieten. Die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten ist der wohl wichtigste Schritt, die (Re-)Integration der Binnenvertriebenen nachhaltig zu gestalten.
Gemeinsam Perspektiven für eine nachhaltige Zukunft entwickeln
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