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Indiens erster Raiffeisen-Markt


Ein Beitrag von Korbinian März, Referent Abteilung Internationale Beziehungen beim DGRV

Genossenschaftlicher Einkauf für eine ertragreiche und nachhaltige Landwirtschaft


Im Zuge der Pandemie litten in Indien besonders auch kleinbäuerliche Betriebe massiv unter den wegfallenden Lieferketten und Absatzmärkten. Der Umsatz brach ein und viele Mitglieder der sogenannten Farmer Producer Organisations (Zusammenschluss kleinbäuerlicher Betriebe, kurz FPOs) gerieten in eine finanzielle Schieflage. Daher wurde bereits Mitte 2020 nach einem zentralen Lösungsansatz gesucht, der es den Mitgliedern ermöglicht, die tagtäglichen Bedarfsgüter zeitnah verfügbar und finanziell erschwinglich zu machen. Die Lösung: Ein Raiffeisen-Markt nach deutschem Vorbild.

Viel Wachstum – geringe wirtschaftliche Inklusion


Unter der Regierung von Narendra Modi verfolgt Indien einen stark marktwirtschaftlichen Kurs. Der Erfolg der politischen Linie spiegelt sich in einem hohen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes wider. Gleichzeitig arbeiten nach Schätzungen bis zu 90 Prozent aller Erwerbstätigen im informellen Sektor, was heißt: ohne arbeits- und sozialrechtlichen Schutz. Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Folge immer weiter auseinander und stellt den Staat vor große Herausforderungen gerade im Bereich der Landwirtschaft.

Dies liegt auch an einem hohen Anteil von Subsistenzbetrieben, also Betrieben, die vor allem zur Selbstversorgung genutzt werden. Weitere substanzielle Herausforderungen für die betroffene Landbevölkerung sind Kapitalmangel, geringe Erträge, kleine Anbauflächen und fehlende Absatzstrukturen. Die indische Regierung ist sich dieser Problematik bewusst und ein Lösungsansatz sieht die Förderung von Genossenschaften vor, um vor allem die kleinbäuerlich organisierte Landbevölkerung durch Kooperationen am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben zu lassen.


Bauer mit Pheromonfalle in seinem Tomatenfeld / Credit: DGRV

 

Nachhaltigkeit bedarf Strukturveränderungen


Damit die Erfolge ankommen, bedarf es jedoch Strukturveränderungen auf allen Ebenen. Denn eine einzelne Genossenschaft kann dauerhaft nur erfolgreich sein, wenn sie in ein Netzwerk oder einen Verbund eingebunden ist. Dass dies entscheidend für das Überleben der Genossenschaften ist, zeigte sich deutlich während der COVID-19-Pandemie. Auch die Landwirtschaft und die zahlreichen genossenschaftlichen Strukturen, wie die FPOs, haben durch den temporären Wegfall von Lieferketten ökonomische Rückschläge erfahren. Sie konnten keine Betriebsmittel mehr beziehen und Waren auf den lokalen Märkten vertreiben. Schon davor hatten viele der Klein- und Kleinstbauern, insbesondere in ruralen Gebieten, kaum Zugang zu landwirtschaftlichen Bedarfsgütern, Betriebsmitteln, Ausrüstung und Maschinen. Letztlich bedeutete dies für die Betroffenen eine geringe Produktivität, hohe Anbaukosten und Einschränkungen bei der Nutzung moderner Anbaumethoden. Daher sind die Landwirte konstant vom Wegfall ihrer Lebensgrundlage bedroht. Neben einem hohen Bedarf an Trainings in den Bereichen Rechnungswesen und Buchhaltung, Prüfung, interne Kontrollmechanismen, Good-Governance und Management sowie genossenschaftlichen Prinzipien und Werten, sind die Herausforderungen bei Anbau und Vermarktung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse entscheidend für das Überleben der FPOs.

Ein Raiffeisen-Markt nach deutschem Vorbild


Im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geförderten Projekts des DGRV in Indien werden seit 2018 gezielt FPOs und mehrere Verbände mit genossenschaftlicher Expertise gefördert. So auch der Jangaon-Verband im Bundesstaat Telangana. Auf der Suche nach einer Lösung für den besagten Wegfall von Lieferketten und Absatzmärkten fiel das Augenmerk schnell auf das Konzept eines Raiffeisen-Marktes, der in der Lage ist, den Mitgliedern der FPOs zeitnah verfügbar und finanziell erschwinglich, landwirtschaftliche Bedarfsgüter anbieten zu können. Beratungsmöglichkeiten zu Themen wie biologischer Düngemittel- oder Pestizideinsatz sollten das Angebot komplettieren. Die indische DGRV-Partnerorganisation APMAS hatte im Rahmen eines Fachprogramms in Deutschland bereits das Raiffeisen-Markt-System kennengelernt. Beeindruckt von der regionalen Verbundenheit und dem vielseitigen Angebot landwirtschaftlicher Bedarfsgüter und Beratungsangebote für die Kundinnen und Kunden sowie Mitglieder der deutschen Raiffeisen-Märkte, wurde die simple, aber vielversprechende Idee mit dem Jangaon-Verband besprochen. Schnell wurde deutlich, dass Verband und Mitglieder von dem Aufbau einer solchen bedarfsorientierten, lokalen One-Stop-Komplettlösung sehr angetan waren. Im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe erklärte sich der Jangaon-Verband dazu bereit, den Aufbau des Marktes wesentlich zu tragen und die Grundausstattung über die Mitglieder anteilig zu finanzieren. Nach einer Testphase sollte sich der Markt mit den Mitglieds-FPOs im Umkreis von 30 km und ihren rund 5.000 Haushalten als regelmäßige Kunden finanziell nachhaltig tragen.

Aber nicht nur in Indien wurde das Konzept eines Raiffeisen-Marktes nach deutschem Vorbild gut aufgenommen. Auch die Stiftung GESTE des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands (BWGV) war von der Idee, einen Teil erfolgreicher genossenschaftlicher Tradition mit Indien zu teilen, begeistert und erklärte sich bereit, bei der Realisierung des Projekts mitzuwirken. Seit Anfang 2021 fördert der DGRV daher mit finanzieller Unterstützung durch die Stiftung GESTE den Aufbau des Marktes. Die genossenschaftliche Beratung und Unterstützung werden durch den Partner APMAS geleistet.

Stark in der Region


Rasch wurden die Gründungsstatuten durch die Mitglieder verabschiedet und die Registrierungsdokumente bei den Behörden eingereicht. Die Werte Regionalität und Qualität sind darin auf Wunsch der Mitglieder explizit als Ziel hervorgehoben. Mit Hilfe von APMAS wurde zudem ein nachhaltiges Finanzierungskonzept auf die Beine gestellt. Denn mittelfristig soll sich der Markt durch die Einkäufe der Mitglieder refinanzieren.

Seit Anfang 2022 ist der Raiffeisen-Markt offiziell registriert. Entsprechend den Gründungsstatuten besitzen und managen der Jangaon-Verband und damit die Mitglieds-FPOs mit ihren rund 3.000 Mitgliedern den Raiffeisen-Markt als lokale Drehscheibe für den Bezug landwirtschaftlicher Bedarfsgüter. Mit einem eigens angeschafften Transporter können zudem die Erzeugnisse der Mitglieder zu den Großmärkten gebracht und Betriebsmittel bezogen werden. Damit liegen Absatz und Beschaffung in den Händen der Mitglieder. Zuvor notwendige Zwischenhändler können umgangen werden.

Zudem werden seit Beginn des Projekts sowohl die Angestellten des Raiffeisen-Marktes als auch relevante Verbandsmitarbeitende zu den Themen Good Corporate Governance, interne Kontrolle, Business Planning, Buchhaltung und Rechnungswesen geschult. Neben der Umsetzung genossenschaftlicher Praktiken liegt ein Fokus darauf, ein Bewusstsein für eine nachhaltige Landwirtschaft zu entwickeln. Konkret äußert sich dies beispielsweise in der Anwendung von Bio-Pestiziden und -Düngemitteln sowie der Einführung von Fruchtfolgen. Denn der Markt soll sich nicht nur für die Mitglieder finanziell lohnen, er soll auch einen Beitrag zu einem zukunftsfähigen landwirtschaftlichen Sektor und zu gesünderen Produkten leisten und die Bodenfruchtbarkeit durch biologische Düngemittel verbessern.

Ein Modellprojekt mit Leuchtturmcharakter


Im März 2022 wurde der Raiffeisen-Markt schließlich offiziell eröffnet. Neben den Verbandsmitgliedern nahmen auch Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Provinzbehörden wie auch der Stiftung GESTE und des DGRV virtuell an den Feierlichkeiten teil. Neben der Eröffnung gab es noch einen weiteren Grund zu feiern, denn Idee und Konzept haben rasch Breitenwirksamkeit erzielt. Bis zum März 2022 sind drei weitere FPOs mit rund 1.400 Mitgliedern dem Jangaon-Verband beigetreten, insbesondere um die Dienstleistungen des Marktes in Anspruch nehmen zu können.

Dies macht deutlich: Eine One-Stop-Komplettlösung, die regional verankert, mitglieder- und dienstleistungsorientiert ist und auf zentralen genossenschaftlichen Werten wie Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung basiert, kommt bei den landwirtschaftlichen Produzentengruppen gut an.

In Indien existiert derzeit keine vergleichbare Einrichtung. Daher soll das erfolgreiche Modellprojekt des Raiffeisen-Marktes zukünftig als Leuchtturmprojekt zur Einkommensgenerierung und Armutsreduzierung für FPOs fungieren, welches sich auch in weiteren Bundesstaaten Indiens realisieren lässt. Zwar wird sich erst noch zeigen, ob sich der jetzige Raiffeisen-Markt finanziell nachhaltig tragen wird, doch der erfolgreiche Start deutet darauf hin, dass es nicht der einzige in Indien bleiben wird.

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