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Partizipationspraktiken in Genossenschaften


Ein Beitrag von Dr. Ronald Hartz, Dr. Melanie Hühn, Dr. Irma Rybnikova, Markus Tümpel, Technische Universität Chemnitz, für das DGRV-Fachmagazin PerspektivePraxis.


Genossenschaften werden seit jeher mit Vorstellungen von Partizipation und Demokratie in Organisationen in Verbindung gebracht. Zugleich wurden immer wieder Bedenken an der Vorbildfunktion von Genossenschaften hinsichtlich partizipativer Praktiken vorgebracht. Im von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten Forschungsprojekt „Partizipationspraktiken in Genossenschaften“ wurden 14 Genossenschaften unterschiedlicher Größe und Branchenzugehörigkeit (Wohnungs-, Konsum-, Kredit- und Agrargenossenschaften) im Hinblick auf Praktiken der Partizipation untersucht. Auf Basis von Interviews, Dokumentenanalysen und teilnehmenden Beobachtungen gelang ein detaillierter Einblick in unterschiedliche Akteure, Formen, Barrieren und Treiber von Partizipation, welche sich zu vier unterschiedlichen Typen der Partizipation verdichten ließen.

Typ 1 – Projektbasierte Partizipation


Bei den Genossenschaften dieses Typs handelt es sich um kleine Projekte mit Mitgliederzahlen im ein- bis zweistelligen Bereich, die in der Regel keine Mitarbeiter haben. Die beiden untersuchten Fälle, die sich diesem Typ zuordnen lassen, sind kleine Wohnungsgenossenschaften. Wesentliches Motiv für die Gründung der Genossenschaft war der Erhalt und die Bereitstellung von günstigem Wohnraum. Die Beteiligten verstehen ihre Genossenschaft nicht primär als Unternehmen, sondern als Projekt, zu dessen Umsetzung die Rechtsform aufgrund ihrer partizipativen und mitgliederorientierten Möglichkeiten passt. Gemeinschaft spielt eine übergeordnete Rolle, geht aber auch mit Abschottung der Genossenschaft nach außen einher: Das Projekt soll auf eine (von vornherein) bestimmte Gruppe bezogen bleiben und ausschließlich dieser Gruppe einen Nutzen bringen. Die Gründung derartiger Genossenschaften ist in der Regel mit hohen monetären Einlagen ihrer Mitglieder verbunden; die anfallenden Arbeiten werden meist ehren-amtlich erledigt. Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, Mitsprache und Gemeinschaft sind Werte, mit denen sich die Mitglieder projektbasierter Genossenschaften vornehmlich identifizieren. Partizipation fungiert als sinnstiftendes Moment dieser Genossenschaften und die Entscheidungsfindung wird als Ausdruck des Willens der Mitglieder verstanden. Dementsprechend werden ausschließlich Formen der direkten und informellen Partizipation gewählt, etwa häufige Zusammenkünfte der Mitglieder, alltägliche Kommunikation „zwischen Tür und Angel“, Konsensorientierung in den Entscheidungsprozessen und kurze Wahlzyklen. Basisdemokratische Ideen sind somit ein wesentlicher Treiber der projektbasierten Partizipation. Gleichzeitig wird von den einzelnen Mitgliedern ein hohes Maß an Eigeninitiative und ehrenamtlicher Arbeit abverlangt.

Typ 2 – Werteorientierte Partizipation


Fälle dieses Typs sind wirtschaftlich erfolgreiche, stark wachsende Genossenschaften aus dem Konsum-, Kredit- und Agrarbereich. Partizipation ist hier mit einer Reihe weiterer Werte, z. B. Nachhaltigkeit, verbunden und fungiert als sinn- und identitätsstiftendes Moment. Wie Typ 1 ist auch dieser Typ in einem alternativen (ökologischen) Milieu verankert. Die Wahl der Rechtsform Genossenschaft erfolgte bewusst, da sie als kompatibel mit den vertretenen Werten erachtet wird, allen voran Partizipation. So gehen vorhandene Partizipationsinstanzen für Mitglieder dann auch über rechtliche Vorgaben hinaus: Trotz der Größe der Genossenschaften dieses Typs (zwischen 2.500 und 45.000 Mit-glieder) werden Instanzen direkter Partizipation für Mitglieder aufrechterhalten, beispielsweise in Form von Generalversammlungen. Obgleich die Partizipation der Mitglieder unterschiedlich stark aus-geprägt ist, finden sich in allen Fällen dieses Typs vielfältige formelle und in-formelle Partizipationsmöglichkeiten für Mitglieder und Mitarbeiter, etwa in Form von Zukunftswerkstätten. Klassische Formen repräsentativer Mitarbeiterpartizipation, etwa Betriebsräte, finden sich nicht bzw. in Form alternativer Gremien, etwa Vertrauenskreise. Dem informellen und wertstiftenden Charakter der Partizipation entsprechend übernimmt der Vorstand in den Genossenschaften dieses Typs eine strategische Rolle mit verstärkter Kommunikationsarbeit gegenüber den Mitgliedern und Mitarbeitern. Partizipation fungiert als wichtiges sinnstiftendes und praktisches Moment in den untersuchten Fällen. Zugleich erfordert das Wachstum der Genossenschaften eine permanente Reflexion über die Möglichkeiten der Aufrechterhaltung partizipativer Praktiken.

Typ 3 – Kundenorientierte Partizipation


Der dritte Typ wird durch vier große Genossenschaften in der Kredit-, Konsum- und Wohnungsbaubranche repräsentiert. Der kundenorientierte Partizipationstyps hebt sich von den anderen Typen dadurch ab, dass hier eine aus-geprägte Markt- und Serviceausrichtung als sinnstiftender Rahmen vorherrscht. Vorstand und Aufsichtsrat sehen sich daher vor allem der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe verpflichtet. Mitglieder werden primär als Kunden adressiert. Der Partizipation kommt insgesamt eine geringe Bedeutung zu und sie wird eher als gesetzlich vorgeschriebene Last verstanden, die es zu steuern oder zumindest zugunsten der Kundenorientierung einzusetzen gilt. Entsprechend dominierend ist die finanzielle Mitgliederpartizipation (Dividenden, Sonderkonditionen).Anstatt einer Generalversammlung wird die Vertreterversammlung als geeignete entscheidungsbezogene Partizipationsinstanz angesehen. Die Vertreter er-freuen sich dabei einer besonderen Stellung in der Genossenschaft. Während sich einfache Mitglieder auf die gesetzlich vorgeschriebenen (z. B. die Vertreterwahl) oder randständigen in-formellen Partizipationspraktiken mit Unterhaltungscharakter und ohne Entscheidungsmacht (z. B. Teilnahme an Veranstaltungen) verwiesen sehen, wird für Vertreter teilweise eine über das Gesetz hinausgehende Partizipation ermöglicht, etwa durch Positionen in Beratungsgremien für den Vorstand. Bei Vertreterwahlen werden zudem mögliche Kandidaten gezielt angesprochen und Listenwahlen bevorzugt. Insgesamt ist in dieser Gruppe von Genossenschaften – im Vergleich zu den ersten beiden Typen – ein stärkerer Einfluss bzw. eine Vormachtstellung des Vorstands festzustellen.

Typ 4 – Managementgelenkte Partizipation


Dieser Typ findet sich vorrangig in ostdeutschen Agrargenossenschaften vor, die im Zuge der Transformation aus ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) entstanden sind. Die Agrargenossenschaften verstehen sich grundsätzlich als „normale“ Agrarunternehmen. So wird sich in erster Linie am Markt orientiert und Partizipation nicht als sinnstiftend verstanden; die Mitglieder fungieren vorrangig als Geldgeber und deren Teilhabe beschränkt sich, sofern wirtschaftlich möglich, auf die Ausschüttung jährlicher Dividenden. Die Partizipationsinstanzen für Mitglieder folgen den rechtlichen Mindestvorgaben. Hier ist demzufolge einzig die jährliche Generalversammlung zu nennen, auf der die Mitglieder eher selten von ihrem Recht der Mitsprache Gebrauch machen. Informelle Partizipationsmöglichkeiten für Mitglieder existieren nicht. Repräsentative Partizipationsinstanzen für Mitarbeiter existieren ebenfalls nicht und die Gründung eines Betriebsrates etwa steht nicht zu Debatte. Die Genossenschaft dieses Typs wird von einem Vorstand in alleiniger Verantwortung geleitet. Allerdings sieht sich der Vorstandsvorsitzende in den Fällen dieses Typs zumeist auch selbst als „Chef“ und wird von den Mitarbeitern als solcher bezeichnet. Er ist somit Planer und Entscheider, einzig bei größeren Investitionen erfolgt die rechtlich vorgeschriebene Abstimmung mit dem Aufsichtsrat.

Fazit


Der gesetzlich verankerten Forderung nach Partizipation kommen Genossenschaften auf sehr verschiedene Weise nach. Partizipation fungiert nicht für alle Genossenschaften als sinnstiftendes oder identitätsstiftendes Moment. Ist dies jedoch der Fall, dann finden sich vielfältige Praktiken, die eine starke Einbeziehung der Mitglieder, meist auch der Mitarbeiter von Genossenschaften ermöglichen. Überwiegt hin-gegen eine anderweitige Sinnstiftung, z. B. eine primäre Orientierung an Markt und Wettbewerb, geht dies mit relativ schwacher Partizipation der Genossenschaftsmitglieder bei Entscheidungen einher. Nicht nur die Relevanz der Partizipation an sich, sondern auch die praktizierten Formen der Partizipation in Genossenschaften unterscheiden sich in den untersuchten Typen. So dominiert in den kunden- und managementorientierten Genossenschaften eine dezidiert finanziell ausgerichtete Teilhabe der Mitglieder. Zudem richten sich Partizipationspraktiken hier ausschließlich an den gesetzlichen Mindestanforderungen aus. Insbesondere bei den kunden- und managementorientierten Typen kommt der repräsentativen Partizipation eine hohe bis ausschließliche Bedeutung zu, wohingegen beim werte- und projekt-orientierten Typ direkte Partizipation als wesentlich bedeutsamer und ‚Wert an sich‘ gilt. Die Ergebnisse zeigen so-mit die unterschiedliche Ausprägung und Vielgestaltigkeit von Partizipation in Genossenschaften auf. Damit werden einerseits Potenziale der Rechtsform Genossenschaft in Bezug auf Partizipation sichtbar. Andererseits zeigen sich vielfältige Einflussgrößen (etwa Marktumfeld, Historie, Milieu, externe Akteure), welche Partizipation ermöglichen oder beschränken. Damit erweisen sich einfache Formeln, etwa das Unternehmenswachstum zum Niedergang von Partizipation führt, als ein stückweit entkräftet, ohne dass Genossenschaften per se als demokratische Rechtsform überhöht werden sollten.

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