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Plattformgenossenschaften


Ein Beitrag von Dr. Andreas Wieg, Abteilungsleiter Vorstandsstab beim DGRV


Es gibt wohl kaum einen Bereich in Wirtschaft und Gesellschaft, der nicht vom digitalen Wandel erfasst ist. Die Genossenschaften in der Finanzbranche, im Handel oder der Agrarwirtschaft sind hiervon nicht ausgenommen. Doch wie steht es um neue Genossenschaften im digitalen Umfeld? Die Vertreter des „Platform Cooperativism“ sehen hier ein großes Gründungspotenzial. Digitale Plattformen wie Soziale Netzwerke, Online-Marktplätze, Sharing-Portale, Internet-Suchmaschinen oder Medienplattformen und App-Stores sind aus unserem täglichen Leben kaum wegzudenken. Suchen, Buchen, Bestellen oder Teilen über das Internet hat für die Kunden und Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen viele Vorteile. Doch es gibt auch Kritik an den plattformbasierten Intermediären, insbesondere wegen des Missbrauchs ihrer Marktmacht, der Umgehung von gesetzlichen Regelungen, wie z. B. den gesetzlichen Regelungen zur Personenbeförderung durch den Fahrdienstvermittler Uber, oder fragwürdigen Arbeitsbedingungen für die „Clickworker“. Dies sind nur einige Gründe, weshalb eine stärkere Regulierung und ein besserer Ordnungsrahmen insbesondere für die mächtigen Unternehmen des „Plattformkapitalismus“ gefordert werden. Es gibt aber auch immer mehr Menschen, die Plattformgenossenschaften als Alternative und gleichsam Lösung der benannten Probleme protegieren.

Alternative: Genossenschaft


Um den New Yorker Medienwirtschaftsprofessor Trebor Scholz ist eine Szene des „Platform Cooperativism“ entstanden (platformcoop.net). Die Vertreter erforschen weltweit die Entwicklung von immer neuen genossenschaftlichen Plattformen und sehen ein großes Potenzial für neue Genossenschaften mit verschiedenen Geschäftsmodellen. Der wesentliche Vorteil, zumindest für die genossenschaftlich organisierten Plattformen, liegt auf der Hand: Die Mitglieder-Nutzer können in einem demokratisch verfassten Ordnungsrahmen selbst bestimmen, welche Leistungen angeboten werden, wer für die Plattformkosten aufkommen soll oder wie hoch die Nutzungsgebühren oder Provisionszahlungen ausfallen. Zudem hat man auch die Ausgestaltung der sonstigen Spielregeln selbst in der Hand hat. Das ist schon ein erheblicher Vorteil und gewiss auch förderlich für die Zusammenarbeit. Doch lässt sich mit diesem kollektiven Selbsthilfeansatz der Wettbewerb mit den großen Plattformhirschen aufnehmen?

Genossenschaftliche Buchungsplattform


Ein Beispiel aus Südtirol zeigt, dass das – zumindest für eine Nischenposition – gelingen kann. Die HGV Service Genossenschaft mit Sitz in Bozen betreibt sehr erfolgreich die Internetseite „Booking Südtirol“. Wie beim bekannten Vorbild werden Übernachtungen vermittelt, allerdings nur von regionalen Hotelbetrieben. Sie sind „selbst“ Plattformbetreiber und können dadurch die hohen Provisionen der internationalen Hotel-Vermittlungsplattformen vermeiden. Im Jahr 2019 wurden rund 55.000 Buchungen über die Plattform abgewickelt. Die etwa 2.300 teilnehmenden Beherbergungsbetriebe – das sind etwa 50 Prozent der Mitglieder des Südtiroler Hoteliers- und Gastwirteverbandes (HGV) – erzielten dabei einen Umsatz von rund 52 Millionen Euro. Auch wenn man damit den Platzhirsch booking.com nicht ernsthaft verdrängen wird, so hat man rechnerisch fast ein Viertel der Südtiroler Beherbergungsbetriebe auf der eigenen Plattform organisiert. Die erfolgreiche Etablierung der genossenschaftlichen Buchungsplattform ist maßgeblich auf den HGV zurückzuführen, der die Gründung und den Betrieb der Genossenschaft nebst technischer Plattform vorangebracht hat. Da die Gruppe der Beherbergungsanbieter vorher schon in dem Verband organisiert war, konnte auf ein bestehendes Netzwerk für die Aktivierung der Plattform zurückgegriffen werden.

Genossenschaftlicher Online-Marktplatz


Diese günstige Gründungssituation kommt bei anderen genossenschaftlichen Plattformen eher selten vor. Auch die Fairmondo eG, eine Alternative zu den großen Onlinehandelsplattformen, wurde „auf der grünen Wiese“ gegründet. Private und gewerbliche Anbieter können ihre Artikel verkaufen. Für Privatpersonen ist der Marktplatz kostenlos, den gewerblichen Anbietern werden faire und transparente Verkaufsgebühren abverlangt. Immerhin sind mittlerweile etwa 2.000 Privatpersonen und gewerbliche Anbieter Mitglied der Genossenschaft. Die maximale Beteiligung wurde auf 10.000 Euro gedeckelt, um nicht von Großinvestoren abhängig zu sein. Insoweit stehen im Vergleich zu den bekannten Plattformgiganten nur begrenzte Eigenmittel bereit, um sich zu einem „Massenmarktplatz“ zu entwickeln. Dementsprechend ist auch die Produktpalette im Vergleich deutlich kleiner. Immerhin sind in der Kategorie „Bücher“ zwei Millionen Artikel verfügbar. Als Nischenplattform für einen fairen Onlinehandel mit spezifischen Nutzerinteressen ist also durchaus Platz für eine neue Genossenschaft.

Genossenschaftliches E-Carsharing


Der genossenschaftliche Plattform-Ansatz wird auch im Bereich der Energiewende umgesetzt. Es gibt einige Energiegenossenschaften, die mit der Produktion von erneuerbaren Energien oder dem Betrieb eines Nahwärmenetzes gestartet sind und im nächsten Schritt neue Geschäftsmodelle wie E-Carsharing angehen. Ein Beispiel hierfür ist die UrStrom eG mit Sitz in Mainz. Da der Alleingang beim Aufbau einer Carsharing-Plattform schwierig ist, hat die UrStrom eG im Jahr 2018 gemeinsam mit sieben anderen Energiegenossenschaften die Europäische Dachgenossenschaft The Mobility Factory SCE (TMF) ins Leben gerufen. TMF stellt ein Buchungssystem (Buchungs-App) sowie ein Management- und Abrechnungsprogramm, also die technische Plattform, für die nationalen Mitgliedsgenossenschaften bereit. Im August 2020 wurde zudem noch eine nationale Dachgenossenschaft, die Vianova eG gegründet, um die Energiegenossenschaften in Deutschland auf der gemeinsamen Plattform zu bündeln. Mit diesem mehrstufigen genossenschaftlichen Verbund werden nicht nur Entwicklungskosten u. Ä. geteilt, sondern es arbeiten auch mehrere (junge) Genossenschaften parallel daran, einerseits mehr (Mitglieds-)Energiegenossenschaften als Fahrzeuganbieter für den Verbund zu gewinnen und andererseits mehr (Mitglieder-)Nutzer als aktive Kunden zu überzeugen – lokal, national, europaweit. Im Vergleich zum Alleingang beim Aufbau einer Plattform ist das ein vielversprechender Ansatz.

Fazit


Ob sich (neue) Genossenschaften gegenüber großen, investorengetriebenen Plattformen – zumindest in einer Nische – behaupten können, wird die Zukunft zeigen. Das Potenzial an Kooperationsmöglichkeiten für Plattformen mit spezifischen Nutzerinteressen, etwa mit dem Fokus auf Regionen oder Branchen, ist aber groß und vielfältig. Die Chancen für neue Genossenschaften werden jedenfalls verbessert, wenn eine bestehende Community einbezogen werden kann, sei es durch die Nutzergruppen der (neuen) Kooperationspartner oder einer schon bestehenden Genossenschaft bzw. anderen initiierenden Organisation. Ein Aufsetzen auf bestehenden Strukturen oder mehrstufige Kooperationen erhöhen nicht nur die Kapazitäten, sondern erleichtern auch die Initiierung von Netzwerkeffekten. Wie bei jeder Genossenschaft bleibt festzuhalten: In der Kooperation liegt die Stärke!

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