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Schülergenossenschaften in Argentinien


Ein Beitrag von Steffen Müller, stv. Leiter Abteilung Internationale Beziehungen beim DGRV

Gemeinsam Perspektiven für eine nachhaltige Zukunft entwickeln


In der Provinz Santa Fé in Argentinien, etwa 600 km von Buenos Aires entfernt, liegt die Kleinstadt Sunchales. Obwohl sie nur 26.000 Einwohner hat, trägt sie den Beinamen „nationale Hauptstadt des Genossenschaftswesens in Argentinien“. Der Grund für diese Bezeichnung liegt in der langen Tradition genossenschaftlicher Unternehmen vor Ort. Zusätzlich hat Sunchales jedoch noch eine weitere „genossenschaftliche Besonderheit“: Ausnahmslos alle Grund- und weiterführende Schulen verfügen über eine Schülergenossenschaft.

Schülergenos-
senschaften als integraler Bestandteil von Wirtschaft und Kultur


In Sunchales wird auf den ersten Blick klar: Das Konzept der Schülergenossenschaften ist weit mehr als nur eine schulinterne Aktivität. Viele Menschen und Institutionen sind involviert.

Eine wichtige Rolle spielt beispielsweise das Haus der Genossenschaften „Casa Cooperativa de Provisión Sunchales“, das die Entwicklung der Schülergenossenschaften maßgeblich beeinflusst hat. Auch die Gruppe der genossenschaftlichen Versicherungsgesellschaft Sancor Seguros, zu welcher eine breite Palette von Genossenschaften gehören und die 80% des Bruttoinlandsprodukts in diesem Gebiet erwirtschaftet, fördert Schülergenossenschaften aktiv. Beide Institutionen erkannten, dass Schülergenossenschaften für das Interesse an Genossenschaften in der jungen Generation einen Grundstein legen und somit zum langfristigen Bestehen dieses Wirtschaftsmodells beitragen können.

Die jahrelange Sensibilisierung für die genossenschaftliche Idee sowie eine adäquate Kommunikation über das Konzept der Schülergenossenschaften, die sowohl die Gemeinschaft als auch Verantwortliche der verschiedenen Institutionen überzeugte, war für die Entwicklung der Schülergenossenschaften von großer Bedeutung. Maßgeblich zum Erfolg beigetragen hat zum Beispiel auch ein ständiger Austausch zwischen dem Bildungsministerium der Provinz Santa Fé und den Wirtschafts- und Bildungsbereichen von Sunchales durch das Förderprogramm für Schülergenossenschaften sowie die Unterstützung durch die SANCOR Gruppe.

Die finanzielle Unterstützung ist in Sunchales sogar gesetzlich verankert: 3% der von den Genossenschaften an die Gemeinde gezahlten Steuern müssen direkt an die Schülergenossenschaften weitergegeben werden. Dieser finanzielle Anreiz wird für den Kauf von Ressourcen verwendet, die für die Produktion einiger Schülergenossenschaften benötigt werden, wie z. B. 3D-Drucker, Brennöfen für Keramik oder Saatgut für Gemüsegärten.


Die Schülergenossenschaft der „Pioneros de Rochdale“ Schule hat sich dem umweltfreundlichen und nachhaltigen Gemüseanbau verschrieben.
(Bildnachweis: DGRV)

Rahmenbedingungen werden auch in den Schulen geschaffen


Neben den externen Rahmenbedingungen gibt es auch schulinterne Aspekte,  die maßgeblich den Erfolg von Schülergenossenschaften beeinflussen: Zum einen gibt es zahlreiche Lehrkräfte, die im Genossenschaftswesen ausgebildet und für die Vermittlung geschult sind. Sie unterstützen die Jugendlichen bei der Umsetzung der Aktivitäten der Schülergenossenschaften. Zudem nutzen sie die in Schülergenossenschaften vermittelten praktischen und theoretischen Ansätze, um die sozialen und analytischen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Das geht weit über die klassischen Unterrichtsinhalte hinaus.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Verknüpfung mit den Lehrinhalten. Dabei wird gleichzeitig darauf geachtet, dass sich die Aktivitäten der Schülergenossenschaften an den Interessen der Mitglieder orientieren. Diese können verschiedenste Form annehmen: von Schulradio über Keramikproduktion bis hin zur eigenen Bäckerei, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Teilweise kommerzialisieren die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Produkte sogar und lernen auf diese Weise, ihr Taschengeld selbst zu verdienen.

In allen Schulen ist eine große Motivation zur Mitarbeit in der jeweiligen Schülergenossenschaft zu beobachten. Kinder und Jugendliche lernen so nicht nur verschiedene handwerkliche und geistige Fertigkeiten, sondern auch diverse Soft Skills wie die Übernahme von Verantwortung oder die Zusammenarbeit im Team. Im Kontext der Schülergenossenschaften erleben sowohl Lehrerinnen und Lehrer als auch Schülerinnen und Schüler eine Beziehung auf Augenhöhe und schätzen insbesondere die Möglichkeiten der Mitgestaltung und des selbstständigen Handelns.

Auf diese Weise erlernt die nachfolgende Generation, was Partizipation bedeutet. Man übt miteinander demokratisches Denken und Handeln und wird dadurch Stück für Stück auf die reale Welt vorbereitet. Ein schönes Beispiel für dieses Potenzial liefert ein Blick in die Vorstände der Schülergenossenschaften: Bei den gewählten Vorstandsmitgliedern ist bereits jetzt ein hoher Anteil von Schülerinnen in den führenden Positionen bemerkenswert.

Ein Mehrwert für Bildungs­systeme auf der ganzen Welt


Schülergenossenschaften leisten einen wichtigen Beitrag zu einer qualitativ hochwertigen Bildung: Es wird ein breites Spektrum an akademischen Inhalten wie z. B. Finanz- und Berufsausbildung sowie wichtige pädagogische Methoden für Learning by Doing und den Erwerb von spezifischem Fach-Know-how vermittelt.

Auch der DGRV fördert im Rahmen einer internationalen Projektarbeit, die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) unterstützt wird, das Konzept des Schülergenossenschaftswesens in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Dabei ist es immer wichtig, dass solche Konzepte an die jeweilige Realität vor Ort angepasst werden. Die Stiftung der Sancor-Gruppe und der Casa Cooperativa Sunchales leistet mit ihrer Förderung von Schülergenossenschaften eine großartige Arbeit und stellt damit für ähnlich gelagerte Projekte des DGRV eine wichtige Inspirationsquelle dar. Die Initiative zeigt beispielhaft, wie sich selbst eine Kleinstadt zu einem Hotspot für genossenschaftliches Denken entwickeln kann. Sie zeigt ebenso, dass sich auch die junge Generation für Partizipation und Teilhabe in der Gesellschaft begeistern lässt.

Internationales Netzwerktreffen in Sunchales


Genossenschaftliche Werte im Klassenzimmer
(Bildnachweis: DGRV)

Vom 6. bis 8. April 2022 besuchte eine Gruppe von 13 Vertreterinnen von Projektpartnern und Mitarbeiterinnen des DGRV in Chile (Spar- und Kreditgenossenschaft-SKG COOPEUCH), Uruguay (SKG COOPACE), Paraguay und Mexiko (DGRV) die Schülergenossenschaften von Sunchales. Es gab einen vielschichtigen Austausch mit Verantwortlichen der Gemeinde und Provinzbehörden u. a. der Abteilung für Schülergenossenschaften des Bildungsministeriums der Provinz Santa Fé. Ein Highlight war die virtuelle Zuschaltung der Koordinationsstelle für Genossenschaften bei den Vereinten Nationen (UN) und der International Cooperative Alliance (ICA).

Alle betonten die Bedeutung des Engagements der beteiligten Schulen und von Sancor Seguros sowie die Einbindung von Institutionen verschiedener staatlicher Ebenen. Es wurde ausführlich diskutiert, wie eine adäquate Ausbildung der jungen Generation aussehen kann.

Die genossenschaftliche Bildung hat sich hier als ein äußerst zielführender Weg zum Erwerb von Werten, zur Förderung der Autonomie von Kindern und Jugendlichen, zur Wertschätzung kollektiver Arbeit und zur Stärkung genossenschaftlicher Netzwerke in der Gesellschaft herausgestellt. Alle waren sich darüber einig, dass Schülergenossenschaften nicht nur zur Vermittlung professionellen Wissens, sondern auch zur persönlichen Entwicklung der einzelnen Genossenschaftsmitglieder beitragen können.

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