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Nach „E“ kommt „S“


Ein Beitrag von Silvia Bitterwolf, Referentin Abteilung Grundsatzfragen des DGRV


Die EU-Kommission arbeitet intensiv an ihrem Aktionsplan einer nachhaltigen Finanzstrategie unter Berücksichtigung von Umwelt-, sozialen und Governance-Aspekten (ESG). Nachdem sie bereits eine Umwelt-Taxonomie vorgelegt hat, hat die EU-Plattform für nachhaltige Finanzen (ein Beratungsgremium der EU-Kommission) am 12. Juli 2021 mit einem 61 Seiten umfassenden Vorschlag für eine Sozial-Taxonomie nachgezogen.

Hierfür wurden Kriterien entworfen, anhand derer sich bemessen lassen soll, ob eine Investition aus sozialer Sicht nachhaltig ist. Investoren sollen sicher bestimmen können, welche Investments u. a. auf menschenwürdige Arbeit, bezahlbaren Wohnraum und Zugang zu Produkten und Dienstleistungen zur Befriedigung von Grundbedürfnissen einzahlen.

Der Vorschlag beinhaltet eine horizontale und eine vertikale Dimension. In der horizontalen Dimension zielen die Kriterien auf Prozesse in einem Unternehmen ab, die installiert wurden, um die Rechte bestimmter Personengruppen zu respektieren, vor allem von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Kundinnen und Kunden (z. B. Zahlung angemessener Löhne, keine Kinderarbeit). In der vertikalen Dimension geht es um das Ziel, Menschen einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen (z. B. Zugang zu frischem Wasser, Lebensmitteln, einer festen Unterkunft, medizinischer Versorgung etc.). Die vertikale Dimension ähnelt dabei stark dem Aufbau der Umwelt-Taxonomie.

Zur Umsetzung der Sozial-Taxonomie wurden zwei verschiedene Modelle zur Auswahl gestellt. Im Modell 1 würde es zwei unabhängige Taxonomien geben: die ökologische Taxonomie definiert ökologisch nachhaltige Aktivitäten, die soziale legt sozial nachhaltige Aktivitäten fest. Diese beiden Taxonomien wären (nur) durch soziale und ökologische Mindestgarantien miteinander verbunden. Im Modell 2 hingegen gäbe es eine einzige Taxonomie, die wirtschaftliche Aktivitäten definiert, die sowohl sozial als auch ökologisch nachhaltig sind.

Der DGRV begrüßt ausdrücklich die Zielsetzung der Sozial-Taxonomie und hat hierzu gegenüber der Sustainable Finance Platform Stellung bezogen. Im Folgenden wird auf die wesentlichen Aspekte der Stellungnahme eingegangen.

Würdigung von Genossenschaften


Genossenschaften sind das Rückgrat der mittelständischen Wirtschaft und tief in den Regionen verwurzelt. Sie ermöglichen die wirtschaftliche Entwicklung und soziale Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten. Zumeist sind sie regionale Unternehmen, die vor Ort Arbeitsplätze schaffen und die lokale Wirtschaft insgesamt stärken. Ökonomische und soziale Ungleichheiten wie etwa zwischen städtischen Ballungszentren und strukturschwachen ländlichen Regionen werden durch Genossenschaften abgemildert.

Zudem übernehmen Bürgergenossenschaften vielfach soziale, kulturelle oder gesellschaftliche Aufgaben der Daseinsvorsorge, die von den Kommunen nicht mehr finanziert werden können. Genossenschaften tragen somit zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Regionen Deutschlands bei. Sie übernehmen darüber hinaus vielfach Verantwortung in ihren Regionen und unterstützen mit ihren sozialen Aktivitäten die Gesellschaft vor Ort.

Dieser positive soziale Beitrag, den Genossenschaften leisten, sollte daher explizit in einer Sozial-Taxonomie honoriert werden.

Nicht-messbaren Leistungen


In dem Vorschlag wird betont, dass Investoren dazu beitragen sollen, Menschenrechte zu achten und die Bereitstellung grundlegender Güter und Dienstleistungen zu verbessern, insbesondere für schutzbedürftige Menschen und Gruppen. Eine soziale Taxonomie sollte deshalb auch nicht messbare Leistungen würdigen, die zu sozialer Gerechtigkeit beitragen.

Auch hier kommen wieder Genossenschaften ins Spiel. Die Motivation zur genossenschaftlichen Kooperation besteht darin, dass sich wirtschaftlich schwächere Akteure zusammenschließen, um gemeinsam Größenvorteile zu erreichen. Hierdurch werden insbesondere Selbstständige und kleinere Unternehmen, aber auch Privatper sonen unterstützt, die sich für ihre Region einsetzen. Dies hat wiederum positive Auswirkungen auf eine Kommune oder eine Region.

Daher sollte es in einer Sozial-Taxonomie nicht nur um Produkte und Dienstleistungen gehen, die die soziale Lebenswirklichkeit aller betroffenen Menschen und Regionen verbessern, sondern auch um Organisationsstrukturen, die dies ermöglichen.

Eines der wesentlichen Ziele der EU-Kommission im Rahmen des „Green Deals“ ist, dass niemand, d. h. kein Mensch und kein Ort, zurückgelassen wird (vgl. Mitteilung der EU-Kommission zum europäischen Green Deal vom 11.  Dezember 2019). Genossenschaften leisten hier in vielfältigen Bereichen einen sozialen Beitrag.

Diese sozialen Leistungen für die Gesellschaft sollten sichtbar werden. Hier ist noch deutlicher Verbesserungsbedarf, da sich die positiven sozialen Effekte von Unternehmen mit besonderen Zwecksetzungen wie Genossenschaften in dem Entwurf noch nicht ausreichend widerspiegeln.

Nicht nur Finanzinvestoren


Der aktuelle Vorschlag ist eher einseitig auf die Perspektive von Finanzinvestoren und deren Motivation ausgerichtet. Genossenschaften und andere zweckgebundene Unternehmen entscheiden und handeln jedoch anders. Durch die Fokussierung auf finanzielle Investoren werden Unternehmen, die wie Genossenschaften durch gesetzliche oder in der Satzung festgelegte Regelungen positive gesellschaftliche und soziale Effekte erzeugen, nicht adäquat erfasst.

Eine Taxonomie zu den sozialen Auswirkungen unternehmerischer Tätigkeit sollte dementsprechend nicht nur bei Produkten oder Branchen ansetzen, sondern auch die handlungsleitende Organisationsstruktur berücksichtigen.

Praxisgerechte Ausgestaltung


Leider ist die Umwelt-Taxonomie zu den ersten beiden Umweltzielen zu komplex und eher bürokratisch ausgefallen. Dies sollte sich bei der Sozial-Taxonomie nicht wiederholen. Eine Sozial-Taxonomie darf sich nicht in unübersichtlichen Einzelkriterien ergehen, sondern sollte unbedingt prinzipienorientiert ausgestaltet werden.

Zudem muss sie proportional auf unterschiedliche Unternehmensgrößen angelegt und damit anwendbar sein. Bestehende und neue Nachhaltigkeitspro-jekte sowie deren Finanzierung dürfen nicht durch bloße bürokratische Vorgaben eingeschränkt werden.

Die Ausgestaltung darf auch nicht so ausfallen, dass eine Umsetzung, insbesondere bei mittelständischen Unternehmen, nur unter Hinzuziehung von (Nachhaltigkeits-)Beratern möglich ist. Oberstes Ziel sollte deshalb sein, die bürokratischen Lasten auf ein Mindestmaß zu reduzieren – auch vor dem Hintergrund der politisch gewollten „Vorfahrt für KMU“ (KOM 2008, 394). Bereits bestehende Berichtspflichten im sozialen Bereich sollten daher in die Sozial-Taxonomie integriert werden (können).

Letztlich sollte eine Sozial-Taxonomie auch so ausgestaltet werden, dass ein „Social Washing“ vermieden wird. Wenn viele Stakeholder einbezogen werden, wie es typischerweise bei Genossenschaften der Fall ist, wird dies quasi automatisch erreicht. Dies sollte sich auch in einer Sozial-Taxonomie positiv niederschlagen.

Nach Auswertung der Stellungnahmen soll der Abschlussbericht der Plattform im 4. Quartal 2021 erscheinen. Es bleibt abzuwarten, ob die Genossenschaften positiv aufgenommen werden.

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